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Wenn der Retter zum Opfer wird - Gedanken aus der Führungswerkstatt

Wenn der Retter zum Opfer wird - Gedanken aus der Führungswerkstatt

Montag, November 3, 2025

Neulich sass ich im Zug. Zwei Reihen hinter mir unterhielten sich zwei Frauen lebhaft. Ich verstand nicht alles, aber dann fiel ein Satz, der mich aufhorchen liess:

„… und dann hat sie die Rolle gewechselt und ist voll in die Opferrolle hineingegangen.“

Ich musste schmunzeln. Nicht, weil der Satz lustig war, sondern weil er so treffend das beschreibt, was ich in meiner Arbeit immer wieder beobachte – das Rollenkarussell des Dramadreiecks.

Dieses Modell stammt aus der Transaktionsanalyse. Es beschreibt drei typische Rollen, in die wir in schwierigen Situationen schlüpfen – manchmal blitzschnell, oft unbewusst: 
> das Opfer, das sich hilflos fühlt, 
> den Retter, der helfen will – meist ungefragt, 
> und den Verfolger oder Täter, der kritisiert, kontrolliert oder Schuld verteilt.

Was das Ganze wirklich spannend – und auch herausfordernd – macht: Diese drei Rollen nähren sich aus unseren verletzten oder negativen Ich-Anteilen. Also aus alten Mustern, die in uns anspringen, wenn wir uns nicht gesehen, überfordert oder unverstanden fühlen.

Der Retter zum Beispiel wirkt auf den ersten Blick edel: hilfsbereit, einfühlsam, selbstlos. Doch seine versteckte Botschaft ans Opfer lautet:
„Du schaffst das nicht ohne mich.“ Das klingt nach Fürsorge, ist aber in Wahrheit ein versteckter Griff nach Kontrolle – ein Weg, sich selbst wichtig zu machen.

Der Verfolger sendet eine andere Botschaft:
„Du bist schuld. Du genügst nicht.“ Er nutzt Druck oder Kritik, um die eigene Unsicherheit abzuwehren.

Und das Opfer? Es vermittelt:
„Ich kann nicht. Ich bin ausgeliefert.“ Damit zieht es Hilfe und Aufmerksamkeit an – ohne selbst Verantwortung übernehmen zu müssen.

In der Führungswerkstatt sprechen wir oft über solche Dynamiken – nicht als Theorie, sondern als Spiegel für unsere eigene Haltung. Denn das Dramadreieck spielt sich nicht nur zwischen Menschen ab, sondern auch in uns selbst: Ein Teil will retten, ein anderer klagt an, der dritte zieht sich zurück.

Führung beginnt dort, wo wir dieses innere Spiel erkennen. Wo wir merken: „Ah, hier will mein Retter gebraucht werden.“ Oder: „Da spreche ich gerade aus meiner verletzten Opferhaltung.“

In solchen Momenten entsteht Entwicklung – weil wir aus dem automatischen Reagieren ins bewusste Handeln kommen. Wir steigen aus dem Drama aus und gestalten wieder.

Ich weiss nicht, wie das Gespräch der beiden Frauen im Zug weiterging. Aber ihr Satz blieb hängen:

„… sie ist voll in die Opferrolle hineingegangen.“ Vielleicht war das gar kein Drama – vielleicht einfach ein Moment, um etwas Neues zu erkennen.

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